Zurück in die Zukunft - oder doch nur ein Déjà-vu ?

#1 von illuminati , 29.07.2012 09:38

Zitat
Uns war es vorbehalten, wieder seit Jahrhunderten Kriege ohne Kriegserklärungen, Konzentrationslager, Folterungen, Massenberaubungen und Bombenangriffe auf wehrlose Städte zu sehen, Bestialitäten all dies, welche die letzten fünfzig Generationen nicht mehr gekannt haben und künftige hoffentlich nicht mehr erdulden werden. Aber paradoxerweise habe ich auch in ebenderselben Zeit, da unsere Welt im Moralischen zurückstürzte um ein Jahrtausend, dieselbe Menschheit im Technischen und Geistigen sich zu ungeahnten Taten erheben sehen, mit einem Flügelschlag alles in Millionen Jahren Geleistete überholend: die Eroberung der Luft durch das Flugzeug, die Übermittlung des irdischen Worts in derselben Sekunde über den Erdball und damit die Besiegung des Weltraums, die Zerspaltung des Atoms, die Besiegung der heimtückischsten Krankheiten, die fast tägliche Ermöglichung des gestern noch Unmöglichen. Nie bis zu unserer Stunde hat sich die Menschheit als Gesamtheit teuflischer gebärdet und nie so Gottähnliches geleistet. Dies unser gespanntes, dramatisch überraschungsreiches Leben zu bezeugen, scheint mir Pflicht, denn – ich wiederhole – jeder war Zeuge dieser ungeheuren Verwandlungen, jeder war genötigt Zeuge zu sein. Für unsere Generation gab es kein Entweichen, kein Sichabseits-Stellen wie in den früheren; wir waren dank unserer neuen Organisation der Gleichzeitigkeit ständig einbezogen in die Zeit. Wenn Bomben in Shanghai die Häuser zerschmetterten, wußten wir es in Europa in unseren Zimmern, ehe die Verwundeten aus ihren Häusern getragen waren. Was tausend Meilen über dem Meer sich ereignete, sprang uns leibhaftig im Bilde an. Es gab keinen Schutz, keine Sicherung gegen das ständige Verständigtwerden und Mitgezogensein. Es gab kein Land, in das man flüchten, keine Stille, die man kaufen konnte, immer und überall griff uns die Hand des Schicksals und zerrte uns zurück in sein unersättliches Spiel. Ständig mußte man sich Forderungen des Staates unterordnen, der stupidesten Politik zur Beute hinwerfen, den phantastischsten Veränderungen anpassen, immer war man an das Gemeinsame gekettet, so erbittert man sich wehrte; es riß einen mit, unwiderstehlich. Wer immer durch diese Zeit ging oder vielmehr gejagt und gehetzt wurde – wir haben wenig Atempausen gekannt –, hat mehr Geschichte miterlebt als irgendeiner seiner Ahnen. Auch heute stehen wir abermals an einer Wende, an einem Abschluß und einem neuen Beginn.



Ist das eine gute poetische Beschreibung der aktuellen Zeit?

 
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RE: Zurück in die Zukunft - oder doch nur ein Déjà-vu ?

#2 von illuminati , 29.07.2012 09:45

Zitat
Die Welt von Gestern: Erinnerungen eines Europäers (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) (Stefan Zweig)



Der obige Text ist ein Zitat aus diesem Buch. Die Ereignisse spielen um die Jahrundertwende - nicht zum 21. Jahrhundert sondern zum 20. Jahrhundert (ca. 1900 - 1939) - geschrieben wurde es um 1939 - im Jahre 1942 schied der Autor aus dem Leben durch Suizid. Ich werde noch einige Zitate daraus bringen - es ist meine Auswahl und sie könnten erst gestern geschrieben worden sein, so jedenfalls verstehe ich es.

 
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RE: Zurück in die Zukunft - oder doch nur ein Déjà-vu ?

#3 von illuminati , 29.07.2012 09:47

Zitat
Wenn ich versuche, für die Zeit vor dem Ersten Weltkriege, in der ich aufgewachsen bin, eine handliche Formel zu finden, so hoffe ich am prägnantesten zu sein, wenn ich sage: es war das goldene Zeitalter der Sicherheit. Alles in unserer fast tausendjährigen österreichischen Monarchie schien auf Dauer gegründet und der Staat selbst der oberste Garant dieser Beständigkeit. Die Rechte, die er seinen Bürgern gewährte, waren verbrieft vom Parlament, der frei gewählten Vertretung des Volkes, und jede Pflicht genau begrenzt. Unsere Währung, die österreichische Krone, lief in blanken Goldstücken um und verbürgte damit ihre Unwandelbarkeit. Jeder wußte, wieviel er besaß oder wieviel ihm zukam, was erlaubt und was verboten war. Alles hatte seine Norm, sein bestimmtes Maß und Gewicht. Wer ein Vermögen besaß, konnte genau errechnen, wieviel an Zinsen es alljährlich zubrachte, der Beamte, der Offizier wiederum fand im Kalender verläßlich das Jahr, in dem er avancieren werde und in dem er in Pension gehen würde. Jede Familie hatte ihr bestimmtes Budget, sie wußte, wieviel sie zu verbrauchen hatte für Wohnen und Essen, für Sommerreise und Repräsentation, außerdem war unweigerlich ein kleiner Betrag sorgsam für Unvorhergesehenes, für Krankheit und Arzt bereitgestellt. Wer ein Haus besaß, betrachtete es als sichere Heimstatt für Kinder und Enkel, Hof und Geschäft vererbte sich von Geschlecht zu Geschlecht; während ein Säugling noch in der Wiege lag, legte man in der Sparbüchse oder der Sparkasse bereits einen ersten Obolus für den Lebensweg zurecht, eine kleine ›Reserve‹ für die Zukunft. Alles stand in diesem weiten Reiche fest und unverrückbar an seiner Stelle und an der höchsten der greise Kaiser; aber sollte er sterben, so wußte man (oder meinte man), würde ein anderer kommen und nichts sich ändern in der wohlberechneten Ordnung. Niemand glaubte an Kriege, an Revolutionen und Umstürze. Alles Radikale, alles Gewaltsame schien bereits unmöglich in einem Zeitalter der Vernunft. Dieses Gefühl der Sicherheit war der erstrebenswerteste Besitz von Millionen, das gemeinsame Lebensideal. Nur mit dieser Sicherheit galt das Leben als lebenswert, und immer weitere Kreise begehrten ihren Teil an diesem kostbaren Gut. Erst waren es nur die Besitzenden, die sich dieses Vorzugs erfreuten, allmählich aber drängten die breiten Massen heran; das Jahrhundert der Sicherheit wurde das goldene Zeitalter des Versicherungswesens. Man assekurierte sein Haus gegen Feuer und Einbruch, sein Feld gegen Hagel und Wetterschaden, seinen Körper gegen Unfall und Krankheit, man kaufte sich Leibrenten für das Alter und legte den Mädchen eine Police in die Wiege für die künftige Mitgift. Schließlich organisierten sich sogar die Arbeiter, eroberten sich einen normalisierten Lohn und Krankenkassen, Dienstboten sparten sich eine Altersversicherung und zahlten im voraus ein in die Sterbekasse für ihr eigenes Begräbnis. Nur wer sorglos in die Zukunft blicken konnte, genoß mit gutem Gefühl die Gegenwart.
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Die Welt von Gestern: Erinnerungen eines Europäers (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) (Stefan Zweig)



Das war vor 110 Jahren ......

 
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RE: Zurück in die Zukunft - oder doch nur ein Déjà-vu ?

#4 von illuminati , 29.07.2012 09:50

Zitat
Jetzt aber war es doch nur eine Angelegenheit von Jahrzehnten, bis das letzte Böse und Gewalttätige endgültig überwunden sein würde, und dieser Glaube an den ununterbrochenen, unaufhaltsamen ›Fortschritt‹ hatte für jenes Zeitalter wahrhaftig die Kraft einer Religion; man glaubte an diesen ›Fortschritt‹ schon mehr als an die Bibel, und sein Evangelium schien unumstößlich bewiesen durch die täglich neuen Wunder der Wissenschaft und der Technik. In der Tat wurde ein allgemeiner Aufstieg zu Ende dieses friedlichen Jahrhunderts immer sichtbarer, immer geschwinder, immer vielfältiger.
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Die Welt von Gestern: Erinnerungen eines Europäers (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) (Stefan Zweig)



Zitat
Die Menschen wurden schöner, kräftiger, gesünder, seit der Sport ihnen die Körper stählte, immer seltener sah man Verkrüppelte, Kropfige, Verstümmelte auf den Straßen, und alle diese Wunder hatte die Wissenschaft vollbracht, dieser Erzengel des Fortschritts. Auch im Sozialen ging es voran; von Jahr zu Jahr wurden dem Individuum neue Rechte gegeben, die Justiz linder und humaner gehandhabt, und selbst das Problem der Probleme, die Armut der großen Massen, schien nicht mehr unüberwindlich. Immer weiteren Kreisen gewährte man das Wahlrecht und damit die Möglichkeit, legal ihre Interessen zu verteidigen, Soziologen und Professoren wetteiferten, die Lebenshaltung des Proletariats gesünder und sogar glücklicher zu gestalten – was Wunder darum, wenn dieses Jahrhundert sich an seiner eigenen Leistung sonnte und jedes beendete Jahrzehnt nur als die Vorstufe eines besseren empfand? An barbarische Rückfälle, wie Kriege zwischen den Völkern Europas, glaubte man so wenig wie an Hexen und Gespenster; beharrlich waren unsere Väter durchdrungen von dem Vertrauen auf die unfehlbar bindende Kraft von Toleranz und Konzilianz. Redlich meinten sie, die Grenzen von Divergenzen zwischen den Nationen und Konfessionen würden allmählich zerfließen ins gemeinsame Humane und damit Friede und Sicherheit, diese höchsten Güter, der ganzen Menschheit zugeteilt sein.
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Die Welt von Gestern: Erinnerungen eines Europäers (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) (Stefan Zweig)



Wem kommt das bekannt vor?

 
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RE: Zurück in die Zukunft - oder doch nur ein Déjà-vu ?

#5 von illuminati , 29.07.2012 09:54

Zitat
über seinen Vater
Er hatte das Credo seiner Epoche ›Safety first‹ in sich aufgenommen; es war ihm wesentlicher, ein ›solides‹ – auch dies ein Lieblingswort jener Zeit – Unternehmen mit eigener Kapitalkraft zu besitzen, als es durch Bankkredite oder Hypotheken ins Großdimensionale auszubauen. Daß zeitlebens nie jemand seinen Namen auf einem Schuldschein, einem Wechsel gesehen hatte und er nur immer auf der Habenseite seiner Bank – selbstverständlich der solidesten, der Rothschildbank, der Kreditanstalt – gestanden, war sein einziger Lebensstolz.
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Die Welt von Gestern: Erinnerungen eines Europäers (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)



Zitat
Dank diesem ständigen Zurücklegen der Gewinne bedeutete in jener Epoche steigender Prosperität, wo überdies der Staat nicht daran dachte, auch von den stattlichsten Einkommen mehr als ein paar Prozent an Steuern abzuknappen und andererseits die Staats- und Industriewerte hohe Verzinsung brachten, für den Vermögenden das Immerreicher-Werden eigentlich nur eine passive Leistung. Und sie lohnte sich; noch wurde nicht wie in den Zeiten der Inflation der Sparsame bestohlen, der Solide geprellt, und gerade die Geduldigsten, die Nichtspekulanten hatten den besten Gewinn. Dank dieser Anpassung an das allgemeine System seiner Zeit konnte mein Vater schon in seinem fünfzigsten Jahre auch nach internationalen Begriffen als sehr vermögender Mann gelten.
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Die Welt von Gestern: Erinnerungen eines Europäers (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) (Stefan Zweig)



der Sozialstaat war damals noch nicht geboren ......

Fortsetzung folgt ......

 
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RE: Zurück in die Zukunft - oder doch nur ein Déjà-vu ?

#6 von Somprit , 29.07.2012 10:56

Zitat von illuminati
...Ist das eine gute poetische Beschreibung der aktuellen Zeit?



...ne, ne, ich würde sagen, dass der Schreiber nostalgische Gedanken mit der Gegenwart verbindet/vermischt, ein bunter Mix der Vergangenheit & Gegenwart poesievoll abgehandelt... ...wobei ihm die Realität kaum abgesprochen werden kann!
.

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RE: Zurück in die Zukunft - oder doch nur ein Déjà-vu ?

#7 von illuminati , 29.07.2012 13:12

Zitat von Somprit

...ne, ne, ich würde sagen, dass der Schreiber nostalgische Gedanken mit der Gegenwart verbindet/vermischt, ein bunter Mix der Vergangenheit & Gegenwart poesievoll abgehandelt... ...wobei ihm die Realität kaum abgesprochen werden kann!
.



knapp daneben - geschrieben wurde es um 1939 (alles ist mindst. 70 J. schon Geschichte) - im Jahre 1942 schied der Autor aus dem Leben durch Suizid. Ich habe es oben nachgetragen.

Wenn man nicht wüsste, dass seit den beschriebenen Ereignissen schon 70-100 J. vergangen sind, könnte man das meiste für Tagesgeschehen halten. Das wirklich interessante kommt später ..
Gruss

 
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RE: Zurück in die Zukunft - oder doch nur ein Déjà-vu ?

#8 von illuminati , 29.07.2012 15:16

Zitat
Erst viel später ist es mir klar geworden, daß dieser Begriff der ›guten‹ Familie, der uns Knaben als eine parodistische Farce einer künstlichen Pseudoaristokratie erschien, eine der innersten und geheimnisvollsten Tendenzen des jüdischen Wesens ausdrückt. Im allgemeinen wird angenommen, reich zu werden sei das eigentliche und typische Lebensziel eines jüdischen Menschen. Nichts ist falscher. Reich zu werden bedeutet für ihn nur eine Zwischenstufe, ein Mittel zum wahren Zweck und keineswegs das innere Ziel. Der eigentliche Wille des Juden, sein immanentes Ideal ist der Aufstieg ins Geistige, in eine höhere kulturelle Schicht. Schon im östlichen orthodoxen Judentum, wo sich die Schwächen ebenso wie die Vorzüge der ganzen Rasse intensiver abzeichnen, findet diese Suprematie des Willens zum Geistigen über das bloß Materielle plastischen Ausdruck: der Fromme, der Bibelgelehrte, gilt tausendmal mehr innerhalb der Gemeinde als der Reiche; selbst der Vermögendste wird seine Tochter lieber einem bettelarmen Geistesmenschen zur Gattin geben als einem Kaufmann. Diese Überordnung des Geistigen geht bei den Juden einheitlich durch alle Stände; auch der ärmste Hausierer, der seine Packen durch Wind und Wetter schleppt, wird versuchen, wenigstens einen Sohn unter den schwersten Opfern studieren zu lassen, und es wird als Ehrentitel für die ganze Familie betrachtet, jemanden in ihrer Mitte zu haben, der sichtbar im Geistigen gilt, einen Professor, einen Gelehrten, einen Musiker, als ob er durch seine Leistung sie alle adelte.
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Die Welt von Gestern: Erinnerungen eines Europäers (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) (Stefan Zweig)



Selbstbetachtung des Autors - interessant ..

 
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RE: Zurück in die Zukunft - oder doch nur ein Déjà-vu ?

#9 von illuminati , 29.07.2012 15:19

Zitat
Man lebte gut, man lebte leicht und unbesorgt in jenem alten Wien, und die Deutschen im Norden sahen etwas ärgerlich und verächtlich auf uns Nachbarn an der Donau herab, die, statt ›tüchtig‹ zu sein und straffe Ordnung zu halten, sich genießerisch leben ließen, gut aßen, sich an Festen und Theatern freuten und dazu vortreffliche Musik machten. Statt der deutschen ›Tüchtigkeit‹, die schließlich allen andern Völkern die Existenz verbittert und verstört hat, statt dieses gierigen Allen-andern-vorankommen-Wollens und Vorwärtsjagens liebte man in Wien gemütlich zu plaudern, pflegte ein behagliches Zusammensein und ließ in einer gutmütigen und vielleicht laxen Konzilianz jedem ohne Mißgunst seinen Teil. ›Leben und leben lassen‹ war der berühmte Wiener Grundsatz, ein Grundsatz, der mir noch heute humaner erscheint als alle kategorischen Imperative, und er setzte sich unwiderstehlich in allen Kreisen durch. Arm und reich, Tschechen und Deutsche, Juden und Christen wohnten trotz gelegentlicher Hänseleien friedlich beisammen, und selbst die politischen und sozialen Bewegungen entbehrten jener grauenhaften Gehässigkeit, die erst als giftiger Rückstand vom Ersten Weltkrieg in den Blutkreislauf der Zeit eingedrungen ist.
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Die Welt von Gestern: Erinnerungen eines Europäers (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) (Stefan Zweig)



Zitat
Wie wenig haben sie gewußt durch ihr Verhaspeltsein in Sicherheit und Besitz und Behaglichkeit, daß Leben auch Übermaß und Spannung sein kann, ein ewiges Überraschtsein und aus allen Angeln Gehobensein; wie wenig in ihrem rührenden Liberalismus und Optimismus haben sie geahnt, daß jeder nächste Tag, der vor dem Fenster graut, unser Leben zerschmettern kann. Selbst in ihren schwärzesten Nächten vermochten sie sich nicht auszuträumen, wie gefährlich der Mensch werden kann, aber ebensowenig auch, wieviel Kraft er hat, Gefahren zu überstehen und Prüfungen zu überwinden.
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Zeitreihe für die Texte derzeit noch vor dem 1. WK (Hinweis) ---- wie wenig haben sie gewusst ...

 
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RE: Zurück in die Zukunft - oder doch nur ein Déjà-vu ?

#10 von illuminati , 29.07.2012 15:23

Zitat
Die Schule im vorigen Jahrhundert Daß ich nach der Volksschule auf das Gymnasium gesandt wurde, war nur eine Selbstverständlichkeit. Man hielt in jeder begüterten Familie schon um des Gesellschaftlichen willen sorglich darauf, ›gebildete‹ Söhne zu haben; man ließ sie Französisch und Englisch lernen, machte sie mit Musik vertraut, hielt ihnen zuerst Gouvernanten und dann Hauslehrer für gute Manieren. Aber nur die sogenannte ›akademische‹ Bildung, die zur Universität führte, verlieh in jenen Zeiten des ›aufgeklärten‹ Liberalismus vollen Wert; darum gehörte es zum Ehrgeiz jeder ›guten‹ Familie, daß wenigstens einer ihrer Söhne vor dem Namen irgendeinen Doktortitel trug. Dieser Weg bis zur Universität war nun ziemlich lang und keineswegs rosig. Fünf Jahre Volksschule und acht Jahre Gymnasium mußten auf hölzerner Bank durchgesessen werden, täglich fünf bis sechs Stunden, und in der freien Zeit die Schulaufgaben bewältigt und überdies noch, was die ›allgemeine Bildung‹ forderte neben der Schule, Französisch, Englisch, Italienisch, die ›lebendigen‹ Sprachen neben den klassischen Griechisch und Latein – also fünf Sprachen zu Geometrie und Physik und den übrigen Schulgegenständen. Es war mehr als zuviel und ließ für die körperliche Entwicklung, für Sport und Spaziergänge fast keinen Raum und vor allem nicht für Frohsinn und Vergnügen.
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Die Welt von Gestern: Erinnerungen eines Europäers (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) (Stefan Zweig)



Zitat
Schule war für uns Zwang, Öde, Langeweile, eine Stätte, in der man die ›Wissenschaft des nicht Wissenswerten‹ in genau abgeteilten Portionen sich einzuverleiben hatte, scholastische oder scholastisch gemachte Materien, von denen wir fühlten, daß sie auf das reale und auf unser persönliches Interesse keinerlei Bezug haben konnten. Es war ein stumpfes, ödes Lernen nicht um des Lebens willen, sondern um des Lernens willen, das uns die alte Pädagogik aufzwang. Und der einzige wirklich beschwingte Glücksmoment, den ich der Schule zu danken habe, wurde der Tag, da ich ihre Tür für immer hinter mir zuschlug.
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Die Welt von Gestern: Erinnerungen eines Europäers (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) (Stefan Zweig)



Zitat
Alles, was uns heute als beneidenswerter Besitz erscheint, die Frische, das Selbstbewußtsein, die Verwegenheit, die Neugier, die Lebenslust der Jugend, galt jener Zeit, die nur Sinn für das ›Solide‹ hatte, als verdächtig. Einzig aus dieser sonderbaren Einstellung ist es zu verstehen, daß der Staat die Schule als Instrument zur Aufrechterhaltung seiner Autorität ausbeutete. Wir sollten vor allem erzogen werden, überall das Bestehende als das Vollkommene zu respektieren, die Meinung des Lehrers als unfehlbar, das Wort des Vaters als unwidersprechlich, die Einrichtungen des Staates als die absolut und in alle Ewigkeit gültigen. Ein zweiter kardinaler Grundsatz jener Pädagogik, den man auch innerhalb der Familie handhabte, ging dahin, daß junge Leute es nicht zu bequem haben sollten. Ehe man ihnen irgendwelche Rechte zubilligte, sollten sie lernen, daß sie Pflichten hatten und vor allem die Pflicht vollkommener Fügsamkeit. Von Anfang an sollte uns eingeprägt werden, daß wir, die wir im Leben noch nichts geleistet hatten und keinerlei Erfahrung besaßen, einzig dankbar zu sein hatten für alles, was man uns gewährte, und keinen Anspruch, etwas zu fragen oder zu fordern. Von frühester Kindheit an wurde in meiner Zeit diese stupide Methode der Einschüchterung geübt. Dienstmädchen und dumme Mütter erschreckten schon dreijährige und vierjährige Kinder, sie würden den ›Polizeimann‹ holen, wenn sie nicht sofort aufhörten, schlimm zu sein. Noch als Gymnasiast wurde uns, wenn wir eine schlechte Note in irgendeinem nebensächlichen Gegenstand nach Hause brachten, gedroht, man werde uns aus der Schule nehmen und ein Handwerk lernen lassen – die schlimmste Drohung, die es in der bürgerlichen Welt gab: der Rückfall ins Proletariat –, und wenn junge Menschen im ehrlichsten Bildungsverlangen bei Erwachsenen Aufklärung über ernste zeitliche Probleme suchten, wurden sie abgekanzelt mit dem hochmütigen »Das verstehst du noch nicht«. An allen Stellen übte man diese Technik, im Hause, in der Schule und im Staate. Man wurde nicht müde, dem jungen Menschen einzuschärfen, daß er noch nicht ›reif‹ sei, daß er nichts verstünde, daß er einzig gläubig zuzuhören habe, nie aber selbst mitsprechen oder gar widersprechen dürfe. Aus diesem Grunde sollte auch in der Schule der arme Teufel von Lehrer, der oben am Katheder saß, ein unnahbarer Ölgötze bleiben und unser ganzes Fühlen und Trachten auf den ›Lehrplan‹ beschränken. Ob wir uns in der Schule wohl fühlten oder nicht, war ohne Belang. Ihre wahre Mission im Sinne der Zeit war nicht so sehr, uns vorwärtszubringen als uns zurückzuhalten, nicht uns innerlich auszuformen, sondern dem geordneten Gefüge möglichst widerstandslos einzupassen, nicht unsere Energie zu steigern, sondern sie zu disziplinieren und zu nivellieren.
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Die Welt von Gestern: Erinnerungen eines Europäers (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) (Stefan



und die Schule - vieles kommt mir bekannt vor, wie ergeht es dem Leser?

 
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RE: Zurück in die Zukunft - oder doch nur ein Déjà-vu ?

#11 von illuminati , 29.07.2012 15:29

Jetzt kommt der Teil wo jeder mitreden kann, besonders die Qualitätsttouristen ..

Zitat
Aber im allgemeinen blieb das Fundament des damaligen erotischen Lebens außerhalb der Ehe die Prostitution; sie stellte gewissermaßen das dunkle Kellergewölbe dar, über dem sich mit makellos blendender Fassade der Prunkbau der bürgerlichen Gesellschaft erhob. Von der ungeheuren Ausdehnung der Prostitution in Europa bis zum Weltkriege hat die gegenwärtige Generation kaum mehr eine Vorstellung. Während heute auf den Großstadtstraßen Prostituierte so selten anzutreffen sind wie Pferde auf der Fahrbahn, waren damals die Gehsteige derart durchsprenkelt mit käuflichen Frauen, daß es schwerer hielt, ihnen auszuweichen, als sie zu finden. Dazu kamen noch die zahlreichen ›geschlossenen Häuser‹, die Nachtlokale, die Kabaretts, die Tanzdielen mit ihren Tänzerinnen und Sängerinnen, die Bars mit ihren Animiermädchen. In jeder Preislage und zu jeder Stunde war damals weibliche Ware offen ausgeboten, und es kostete einen Mann eigentlich ebensowenig Zeit und Mühe, sich eine Frau für eine Viertelstunde, eine Stunde oder Nacht zu kaufen wie ein Paket Zigaretten oder eine Zeitung. Nichts scheint mir die größere Ehrlichkeit und Natürlichkeit der gegenwärtigen Lebens- und Liebesformen so sehr zu bekräftigen, wie daß es der Jugend von heute möglich und fast selbstverständlich geworden ist, diese einst unentbehrliche Institution zu entbehren, und daß es nicht die Polizei, nicht die Gesetze gewesen, welche die Prostitution aus unserer Welt zurückgedrängt haben, sondern daß sich dieses tragische Produkt einer Pseudomoral bis auf spärliche Reste durch verminderte Nachfrage selbst erledigt hat.
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Die Welt von Gestern: Erinnerungen eines Europäers (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) (Stefan Zweig)



Zitat
So konnte zum Beispiel eine Prostituierte, wenn sie ihre Ware, das heißt, ihren Körper, an einen Mann verkauft hatte und er nachher die vereinbarte Bezahlung verweigerte, nicht gegen ihn Klage führen. Dann war mit einemmal ihre Forderung – ob turpem causa, wie das Gesetz motivierte – plötzlich eine unmoralische geworden, die nicht den Schutz der Obrigkeit fand. Schon an solchen Einzelheiten spürte man die Zwiespältigkeit einer Auffassung, die einerseits diese Frauen einordnete in ein staatlich erlaubtes Gewerbe, sie aber persönlich als Outcasts außerhalb des allgemeinen Rechts stellte. Aber die eigentliche Unwahrhaftigkeit bestand in der Handhabung, daß alle diese Beschränkungen nur für die ärmeren Klassen galten. Eine Ballettänzerin, die für zweihundert Kronen in Wien ebenso zu jeder Stunde und für jeden Mann zu haben war wie das Straßenmädchen für zwei Kronen, brauchte selbstverständlich keinen Gewerbeschein; die großen Demimondaines wurden sogar in der Zeitung in dem Bericht über das Trabrennen oder Derby unter den prominenten Anwesenden genannt, weil sie eben schon selbst zur ›Gesellschaft‹ gehörten. Ebenso standen einige der vornehmsten Vermittlerinnen, die den Hof, die Aristokratie und die reiche Bürgerschaft mit Luxusware versorgten, jenseits des Gesetzes, das sonst Kuppelei mit schweren Gefängnisstrafen belegte. Die strenge Disziplin, die mitleidslose Überwachung und die soziale Ächtung hatten nur Geltung innerhalb der Armee der Tausende und Tausende, welche mit ihrem Körper und ihrer gedemütigten Seele eine alte und längst unterhöhlte Moralauffassung gegen freie und natürliche Liebesformen verteidigen sollte.
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Zitat
Dort wurden von den Behörden einige Gassen als Liebesmarkt freigegeben: Tür an Tür saßen wie im Yoshiwara Japans oder am Fischmarkt in Kairo noch im zwanzigsten Jahrhundert zweihundert oder fünfhundert Frauen, eine neben der andern, an den Fenstern ihrer ebenerdigen Wohnungen zur Schau, billige Ware, die in zwei Schichten, Tagschicht und Nachtschicht, arbeitete. Der Kavallerie oder Infanterie entsprach die ambulante Prostitution, die zahllosen käuflichen Mädchen, die sich Kunden auf der Straße suchten. In Wien wurden sie allgemein ›Strichmädchen‹ genannt, weil ihnen von der Polizei mit einem unsichtbaren Strich das Trottoir abgegrenzt war, das sie für ihre Werbezwecke benutzen durften; bei Tag und Nacht bis tief ins Morgengrauen schleppten sie eine mühsam erkaufte, falsche Eleganz auch bei Eis und Regen über die Straßen, immer wieder für jeden Vorübergehenden das schon müde gewordene, schlecht geschminkte Gesicht zu einem verlockenden Lächeln zwingend. Und alle Städte erscheinen mir heute schöner und humaner, seit diese Scharen hungriger, unfroher Frauen nicht mehr die Straßen bevölkern, die ohne Lust Lust feilboten und bei ihrem endlosen Wandern von einer Ecke zur andern schließlich doch alle denselben unvermeidlichen Weg gingen: den Weg ins Spital.
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ja liebe Freunde des Seebades - fast wie im Urlaub/ oder wie im neu gewählten zu Hause .. wie hiess die kürzliche ausgestrahlte RTL Kultursendung gleich wieder?

Fortsetzung folgt, das war noch immer nicht das Interessante ..
aber > 50% können sich jetzt hier ausklinken, die wollen das kommende nicht wissen

 
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RE: Zurück in die Zukunft - oder doch nur ein Déjà-vu ?

#12 von illuminati , 31.07.2012 08:45

alles noch im Zeitgeist vor dem 1. WK

Zitat
Einem jungen Menschen von heute begreiflich zu machen, bis zu welchem Grade wir alles Sportliche ignorierten und sogar verachteten, dürfte nicht leicht sein. Allerdings war im vorigen Jahrhundert die Sportwelle noch nicht von England auf unseren Kontinent herübergekommen. Es gab noch kein Stadion, wo hunderttausend Menschen vor Begeisterung tobten, wenn ein Boxer dem anderen die Faust in die Kinnlade schmetterte; die Zeitungen sandten noch nicht Berichterstatter, damit sie mit homerischem Aufschwung über ein Hockeyspiel spaltenlang berichteten. Ringkämpfe, Athletenvereine, Schwergewichtsrekorde galten zu unserer Zeit noch als eine Angelegenheit der äußeren Vorstadt, und Fleischermeister und Lastträger bildeten ihr eigentliches Publikum; höchstens der edlere, aristokratischere Rennsport lockte, ein paarmal im Jahre, die sogenannte ›gute Gesellschaft‹ auf den Rennplatz, nicht aber uns, denen jede körperliche Betätigung als blanker Zeitverlust erschien.
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Die Welt von Gestern: Erinnerungen eines Europäers (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) (Stefan Zweig)



Zitat
Ebenso verächtlich, wie unseren Körper zu trainieren, schien es uns, Zeit mit Spiel zu vergeuden; einzig das Schach fand einige Gnade vor unseren Augen, weil es geistige Anstrengung erforderte; und – sogar noch absurder –, obwohl wir uns als werdende oder immerhin potentielle Dichter fühlten, kümmerten wir uns wenig um die Natur.
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dieser Zeitgeist entsprach der gehobenen Mittelschicht, dem Bildungsbürgertum

 
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RE: Zurück in die Zukunft - oder doch nur ein Déjà-vu ?

#13 von illuminati , 31.07.2012 08:49

politischer Zeitgeist vor dem 1. WK

Zitat
Die Arbeiter marschierten mit ihren Frauen und Kindern in geschlossenen Viererreihen und mit vorbildlicher Disziplin in den Prater, jeder die rote Nelke, das Parteizeichen, im Knopfloch. Sie sangen im Marschieren die Internationale, aber die Kinder fielen dann im schönen Grün der zum erstenmal betretenen ›Nobelallee‹ in ihre sorglosen Schullieder. Es wurde niemand beschimpft, niemand geschlagen, keine Fäuste geballt; kameradschaftlich lachten die Polizisten, die Soldaten ihnen zu. Dank dieser tadellosen Haltung war es dem Bürgertum dann nicht mehr lange möglich, die Arbeiterschaft als eine ›revolutionäre Rotte‹ zu brandmarken, es kam – wie immer im alten und weisen Österreich – zu gegenseitigen Konzessionen; noch war das heutige System der Niederknüppelung und Ausrottung nicht erfunden, noch das (freilich schon verblassende) Ideal der Humanität selbst bei den Parteiführern lebendig.
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Zitat
Die Stadt erregte sich bei den Wahlen, und wir gingen in die Bibliotheken. Die Massen standen auf, und wir schrieben und diskutierten Gedichte. Wir sahen nicht die feurigen Zeichen an der Wand, wir tafelten wie weiland König Belsazar unbesorgt von all den kostbaren Gerichten der Kunst, ohne ängstlich vorauszublicken. Und erst als Jahrzehnte später Dach und Mauern über uns einstürzten, erkannten wir, daß die Fundamente längst unterhöhlt gewesen waren und mit dem neuen Jahrhundert zugleich der Untergang der individuellen Freiheit in Europa begonnen hatte.
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Zitat
Für mich ist Emersons Axiom, daß gute Bücher die beste Universität ersetzen, unentwegt gültig geblieben, und ich bin noch heute überzeugt, daß man ein ausgezeichneter Philosoph, Historiker, Philologe, Jurist und was immer werden kann, ohne je eine Universität oder sogar ein Gymnasium besucht zu haben. Zahllose Male habe ich im praktischen Leben bestätigt gefunden, daß Antiquare oft besser Bescheid wissen über Bücher als die zuständigen Professoren, Kunsthändler mehr verstehen als die Kunstgelehrten, daß ein Großteil der wesentlichen Anregungen und Entdeckungen auf allen Gebieten von Außenseitern stammt. So praktisch, handlich und heilsam der akademische Betrieb für die Durchschnittsbegabung sein mag, so entbehrlich scheint er mir für individuell produktive Naturen, bei denen er sich sogar im Sinn einer Hemmung auszuwirken vermag. Insbesondere an einer Universität wie der unsern in Wien mit ihren sechs- oder siebentausend Studenten, die durch Überfüllung den so fruchtbaren persönlichen Kontakt zwischen Lehrern und Schülern von vornherein hemmte und überdies durch allzu große Treue zu ihrer Tradition gegen die Zeit zurückgeblieben war, sah ich nicht einen einzigen Mann, der mich für seine Wissenschaft hätte faszinieren können. So wurde das eigentliche Kriterium meiner Wahl nicht, welches Fach mich am meisten innerlich beschäftigen würde, sondern im Gegenteil, welches mich am wenigsten beschweren und mir das Maximum an Zeit und Freiheit für meine eigentliche Leidenschaft verstatten könnte. Ich entschloß mich schließlich für Philosophie – oder vielmehr ›exakte‹ Philosophie, wie es bei uns nach dem alten Schema hieß –, aber wahrhaftig nicht aus einem Gefühl innerer Berufung, denn meine Fähigkeiten zu rein abstraktem Denken sind gering.
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diese Feststellungen treffen den Kern der Wahrheit - noch 100 Jahre nachdem sie gemacht wurden

 
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RE: Zurück in die Zukunft - oder doch nur ein Déjà-vu ?

#14 von illuminati , 31.07.2012 08:59

Paris vor dem 1. WK der Traum für jeden Reisenden ....

Zitat
Die Russen, die Deutschen, die Spanier, sie alle, sie alle wissen nicht mehr, wieviel an Freiheit und Freude der herzlos gefräßige Popanz des ›Staates‹ ihnen aus dem Mark der innersten Seele gesogen. Alle Völker fühlen nur, daß ein fremder Schatten breit und schwer über ihrem Leben hängt. Wir aber, die wir noch die Welt der individuellen Freiheit gekannt, wir wissen und können es bezeugen, daß Europa sich einstmals sorglos freute seines kaleidoskopischen Farbenspiels. Und wir erschauern, wie verschattet, verdunkelt, versklavt und verkerkert unsere Welt dank ihrer selbstmörderischen Wut geworden ist. Aber doch, nirgends und nirgends hat man die naive und zugleich wunderbar weise Unbekümmertheit des Daseins beglückter empfinden können als in Paris, wo sie durch Schönheit der Formen, durch Milde des Klimas, durch Reichtum und Tradition glorreich bestätigt war. Jeder von uns jungen Menschen nahm ein Teil dieser Leichtigkeit in sich auf und tat dadurch sein eigenes Teil hinzu; Chinesen und Skandinavier, Spanier und Griechen, Brasilianer und Kanadier, jeder fühlte sich an der Seine zu Hause. Es gab keinen Zwang, man konnte sprechen, denken, lachen, schimpfen, wie man wollte, jeder lebte, wie es ihm gefiel, gesellig oder allein, verschwenderisch oder sparsam, luxuriös oder bohèmehaft, es war für jede Sonderheit Raum und gesorgt für alle Möglichkeiten. Da waren die sublimen Restaurants mit allen kulinarischen Zaubereien und Weinsorten zu zweihundert oder dreihundert Francs, mit sündhaft teuren Cognacs aus den Tagen von Marengo und Waterloo; aber man konnte fast ebenso prächtig essen und pokulieren bei jedem Marchand de Vin um die nächste Ecke. In den vollgedrängten Studentenrestaurants des Quartier Latin bekam man für ein paar Sous die leckersten Nichtigkeiten vor und nach seinem saftigen Beefsteak und noch dazu roten oder weißen Wein und eine baumlange Stange köstlichen Weißbrots. Man konnte gekleidet sein, wie es einem beliebte; die Studenten promenierten mit ihren koketten Baretts über den Boulevard Saint-Michel, die ›rapins‹ wiederum, die Maler, machten sich pastos mit breiten Riesenpilzen von Hüten und romantischen, schwarzen Samtjacken, die Arbeiter wanderten unbesorgt in ihren blauen Blusen oder hemdärmelig über den vornehmsten Boulevard, die Ammen in ihren breitgefältelten bretonischen Hauben, die Weinschenker in ihren blauen Schürzen. Es mußte ja nicht gerade der Vierzehnte Juli sein, daß nach Mitternacht ein paar junge Paare auf der Straße zu tanzen begannen, und der Polizist lachte dazu: die Straße gehörte doch jedem! Niemand genierte sich vor niemandem; die hübschesten Mädchen schämten sich nicht, mit einem pechschwarzen Neger Arm in Arm und ins nächste petit hôtel zu gehen – wer kümmerte sich in Paris um solche später erst aufgeblasene Popanze wie Rasse, Klasse und Herkunft? Man ging, man sprach, man schlief mit dem oder der, die einem gefielen, und kümmerte sich sieben Teufel um die andern.
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Die Welt von Gestern: Erinnerungen eines Europäers (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) (Stefan Zweig)



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Es störte sie nicht im mindesten, als richtige Bauern zwischen blanken Fräcken und großen Toiletten zu sitzen, aber auch der spiegelblank rasierte Kellner rümpfte nicht die Nase, wie er’s in Deutschland oder England bei so dörfischen Gästen getan hätte, sondern servierte ihnen ebenso höflich und tadellos wie den Ministern oder Exzellenzen, und dem Maître d’Hôtel machte es sogar Spaß, die etwas burschikosen Gäste besonders herzlich zu begrüßen. Paris kannte nur ein Nebeneinander der Gegensätze, kein Oben und Unten; zwischen den Luxusstraßen und den schmutzigen Durchlässen daneben lief keine sichtbare Grenze, und überall ging es gleich belebt und heiter zu. In den Höfen der Vorstadt musizierten die Straßenmusikanten, von den Fenstern hörte man die Midinettes bei der Arbeit singen; immer lag irgendwo ein Lachen in der Luft oder ein gutmütig freundlicher Zuruf. Wenn da und dort zwei Kutscher einander ›engueulierten‹, schüttelten sie sich nachher die Hände, tranken ein Glas Wein zusammen und knackten dazu ein paar der – spottbilligen – Austern auf. Nichts war schwierig oder steif. Die Beziehungen zu Frauen knüpften sich leicht an und lösten sich leicht, jeder Topf fand seinen Deckel, jeder junge Mensch eine fröhliche und nicht durch Prüderie gehemmte Freundin. Ach, was lebte man schwerelos, lebte man gut in Paris und insbesondre, wenn man jung war! Schon das bloße Flanieren war eine Lust und zugleich eine ständige Lektion, denn alles stand jedem offen – und man konnte bei einem Bouquinisten eintreten und eine Viertelstunde in den Büchern blättern, ohne daß der Händler knurrte und murrte. Man konnte in die kleinen Galerien gehen und in den Bric-à-Brac-Geschäften alles umständlich gustieren, konnte im Hotel Drouot bei den Versteigerungen schmarotzen und in den Gärten mit den Gouvernanten plaudern; es war nicht leicht, innezuhalten, wenn man einmal ins Bummeln gekommen war, die Straße zog einen magnetisch mit und zeigte kaleidoskopisch unablässig etwas Neues. War man müde, so konnte man auf der Terrasse eines der zehntausend Kaffeehäuser sitzen und Briefe schreiben auf dem unentgeltlich gegebenen Briefpapier und dabei von den Straßenverkäufern sich ihren ganzen Kram von Narrheit und Überflüssigkeit explizieren lassen. Schwer war nur eines: zu Hause zu bleiben oder nach Hause zu gehen, besonders, wenn der Frühling ausbrach, das Licht silbern und weich über der Seine glänzte, die Bäume auf den Boulevards sich grün zu buschen begannen und die jungen Mädchen jedes ihr Veilchensträußchen für einen Sou angesteckt trugen; aber es mußte wahrhaftig nicht gerade Frühling sein, damit man in Paris guter Laune war.
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es ist wichtig das Zeitgefühl der Epoche vor dem 1. WK ein bisschen zu verstehen - die Chancen für junge Leute, wenn sie den Mut fanden ihr Zuhause hinter sich zu lassen. Im normalen Geschichtsunterricht wird das alles komplett unterschlagen, nicht zufällig wie ich glaube ... aber dazu später mehr

 
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RE: Zurück in die Zukunft - oder doch nur ein Déjà-vu ?

#15 von illuminati , 01.08.2012 19:17

Jetzt kommt eine sehr interessante Einlassung wie ich finde- die chronologisch zwar vor dem 1. WK stattfindet, aber eigentlich schon ein Vorbote des 2. WK ist - der Autor ist ja Schriftsteller hatte aber im Laufe seines Lebens persönlichen Kontakt mit diversen geschichtsträchtigen Personen die heute nicht mehr vielen Leuten geläufig sind - der kommende Text handelt von so einer Person. Er macht auf Anregung seines Freundes Walter Rathenau (der wird in späteren Jahren als Reichsaussenminister in der Weimaer Republik http://de.wikipedia.org/wiki/Weimarer_Republikermordet) http://de.wikipedia.org/wiki/Walther_Rathenau eine Indienreise .....

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Unter den Männern, denen ich auf meiner Indienreise begegnete, hat einer auf die Geschichte unserer Zeit unabsehbaren, wenn auch nicht offen sichtbaren Einfluß gewonnen. Von Kalkutta aus nach Hinterindien und auf einem Flußboot den Irawadi hinaufsteuernd, war ich täglich stundenlang mit Karl Haushofer http://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Haushofer und seiner Frau zusammen, der als deutscher Militärattaché nach Japan kommandiert war. Dieser aufrechte, hagere Mann mit seinem knochigen Gesicht und einer scharfen Adlernase gab mir die erste Einsicht in die außerordentlichen Qualitäten und die innere Zucht eines deutschen Generalstabsoffiziers. Ich hatte selbstverständlich schon vordem in Wien ab und zu mit Militärs verkehrt, freundlichen, liebenswürdigen und sogar lustigen jungen Menschen, die meist aus Familien mit bedrängter Lebensstellung in die Uniform geflüchtet waren und aus dem Dienst sich das Angenehmste zu holen suchten. Haushofer dagegen, das spürte man sofort, kam aus einer kultivierten, gutbürgerlichen Familie – sein Vater hatte ziemlich viele Gedichte veröffentlicht und war, glaube ich, Professor an der Universität gewesen –, und seine Bildung war auch jenseits des Militärischen universal. Beauftragt, die Schauplätze des russisch-japanischen Krieges an Ort und Stelle zu studieren, hatten sowohl er als seine Frau sich mit der japanischen Sprache, ja auch Dichtung, vertraut gemacht; an ihm sah ich wieder, daß jede Wissenschaft, auch die militärische, wenn großzügig erfaßt, notwendigerweise über das enge Fachgebiet hinausreichen und sich mit allen andern Wissenschaften berühren muß. Er arbeitete auf dem Schiff den ganzen Tag, verfolgte mit dem Feldstecher jede Einzelheit, schrieb Tagebücher oder Referate, studierte Lexika; selten habe ich ihn ohne ein Buch in Händen gesehen. Als genauer Beobachter wußte er gut darzustellen; ich lernte von ihm im Gespräch viel über das Rätsel des Ostens, und heimgekehrt, blieb ich dann mit der Familie Haushofer in freundschaftlicher Verbindung; wir wechselten Briefe und besuchten einander in Salzburg und München. Ein schweres Lungenleiden, das ihn ein Jahr in Davos oder Arosa festhielt, förderte durch die Abwesenheit vom Militär seinen Übergang in die Wissenschaft; genesen, konnte er dann im Weltkrieg ein Kommando übernehmen. Ich dachte bei dem Niederbruch oft mit großer Sympathie an ihn; ich konnte mir denken, wie er, der jahrelang an dem Aufbau der deutschen Machtposition und vielleicht auch der Kriegsmaschine in seiner unsichtbaren Zurückgezogenheit mitgearbeitet hatte, gelitten haben muß, Japan, wo er viele Freunde erworben hatte, unter den siegreichen Gegnern zu sehen. Bald erwies es sich, daß er einer der ersten war, die systematisch und großzügig an einen Neuaufbau der deutschen Machtposition dachten. Er gab eine Zeitschrift für Geopolitik heraus, und, wie es so oft geht, verstand ich nicht den tieferen Sinn dieser neuen Bewegung in ihrem Beginn. Ich meinte redlich, daß es sich nur darum handle, das Spiel der Kräfte im Zusammenwirken der Nationen zu belauschen, und selbst das Wort vom »Lebensraum« der Völker, das er, glaube ich, als erster prägte, verstand ich im Sinne Spenglers nur als die relative, mit den Epochen wandelhafte Energie, die im zeitlichen Zyklus jede Nation einmal auslöst. Auch Haushofers Forderung, die individuellen Eigenschaften der Völker genauer zu studieren und einen ständigen Instruktionsapparat wissenschaftlicher Natur aufzubauen, schien mir durchaus richtig, da ich meinte, daß diese Untersuchung ausschließlich völkerannähernden Tendenzen zu dienen hätte; vielleicht – ich kann es nicht sagen – war auch wirklich Haushofers ursprüngliche Absicht keineswegs eine politische. Ich las jedenfalls seine Bücher (in denen er mich übrigens einmal zitierte) mit großem Interesse und ohne jeden Verdacht, ich hörte von allen Objektiven seine Vorlesungen als ungemein instruktiv rühmen, und niemand klagte ihn an, daß seine Ideen einer neuen Macht- und Aggressionspolitik dienen sollten und nur die alten großdeutschen Forderungen in neuer Form ideologisch zu motivieren bestimmt seien. Eines Tages aber, als ich in München gelegentlich seinen Namen erwähnte, sagte jemand im Ton der Selbstverständlichkeit: »Ach, der Freund Hitlers?« Ich konnte nicht mehr erstaunt sein, als ich es war. Denn erstens war Haushofers Frau durchaus nicht rassenrein, und seine (sehr begabten und sympathischen) Söhne vermögen den Nürnberger Judengesetzen keineswegs standzuhalten; außerdem sah ich keine direkten geistigen Bindungsmöglichkeiten zwischen einem hochkultivierten, universalisch denkenden Gelehrten und einem auf das Deutschtum in seinem engsten und brutalsten Sinn festgerannten, wüsten Agitator. Aber einer der Schüler Haushofers war Rudolf Heß gewesen, und er hatte die Verbindung zustande gebracht; Hitler, an sich fremden Ideen wenig zugänglich, besaß nun von Anfang an den Instinkt, sich alles anzueignen, was seinen persönlichen Zielen von Nutzen sein konnte; darum mündete und erschöpfte sich die ›Geopolitik‹ für ihn vollkommen in nationalsozialistischer Politik, und er machte sich so viel von ihr dienstbar, als seinen Zwecken dienen konnte. Immer war es ja die Technik des Nationalsozialismus, seine durchaus eindeutig egoistischen Machtinstinkte ideologisch und pseudomoralisch zu unterkellern, und mit diesem Begriff ›Lebensraum‹ war endlich für seinen nackten Aggressionswillen ein philosophisches Mäntelchen gegeben, ein durch seine vage Definitionsmöglichkeit unverfänglich scheinendes Schlagwort, das im Falle eines Erfolges jede Annexion, auch die willkürlichste, als ethische und ethnologische Notwendigkeit rechtfertigen konnte. So ist es mein alter Reisebekannter, der – ich weiß nicht, ob mit Wissen und Willen – jene fundamentale und für die Welt verhängnisvolle Umstellung in Hitlers – ursprünglich streng auf das Nationale und die Rassenreinheit begrenzter – Zielsetzung verschuldet hat, die dann durch die Theorie des ›Lebensraums‹ in den Slogan ausartete: ›Heute gehört uns Deutschland, morgen die ganze Welt‹ – ein ebenso sinnfälliges Beispiel, daß eine einzige prägnante Formulierung durch die immanente Kraft des Wortes sich in Tat und Verhängnis umsetzen kann wie vordem die Formulierung der Enzyklopädisten von der Herrschaft der ›raison‹ schließlich in ihr Gegenteil, Terror und Massenemotion, umschlugen.
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Die Welt von Gestern: Erinnerungen eines Europäers (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) (Stefan Zweig)



Zitat
Aber daß es seine Theorien waren, die mehr als Hitlers rabiateste Berater die aggressive Politik des Nationalsozialismus unbewußt oder bewußt aus dem eng Nationalen ins Universelle getrieben, unterliegt keinem Zweifel; erst die Nachwelt wird mit besserer Dokumentierung, als sie uns Zeitgenossen zur Verfügung steht, seine Gestalt auf das richtige historische Maß bringen.
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Dieser Karl Haushofer http://www.dhm.de/lemo/html/biog.../index.htmlwird bei den Verschwörungstheoretikern mit der Thule Gesellschaft in Verbindung gebracht http://www.berzinarchives.com/we..._tibet.html Auch sein Leben endet durch Suizid.

Wirkliche Geschichte umfasst viel mehr als in Schulen oder Unis gelehrt wird - weil niemand von uns dabei war, muss sich jeder selbst ein Bild machen wie die Fäden zusammen laufen. Der Grund für diesen Part, ist eigentlich nur aufzuzeigen, dass manche Quellen an völlig unerwarteten Orten verborgen sind.

Fortsetztung folgt

 
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